Schlesien, wo liegt das eigentlich? Welche Bedeutung hat diese Region für die deutsch-polnischen Beziehungen? Diese Fragen können leider nur noch wenige Schülerinnen und Schüler in Deutschland beantworten. Um das Wissen über die Geschichte der Deutschen und ihrer Nachbarn im östlichen Europa zu erweitern, müssen neben einer Ergänzung der Lehrpläne vor allem die Multiplikatoren geschult werden. Die Ausbildung der Referendare zu Lehrerinnen und Lehrern erfolgt in Nordrhein-Westfalen in den Zentren für schulpraktische Lehrerbildung (ZfsL). Seit einigen Jahren besuchen drei engagierte Fachleiter des Geschichtsseminars am ZfsL Jülich bei Aachen mit jedem Jahrgang die Städte Schlesiens, die Gedenkstätte Auschwitz (Oświęcim) und die Internationale Jugendbegegnungsstätte Kreisau (Krzyżowa). Die Besuchsorte bieten den Referendaren nachhaltige Einblicke in die deutsch-polnische Kultur- und Beziehungsgeschichte der Region. Zugleich vermittelt das Programm praktisches Wissen für künftige Klassenfahrten und Austauschprogramme.
Mit inhaltlicher und finanzieller Unterstützung des Kulturreferats für Oberschlesien konnte die diesjährige Fahrt in die schlesischen Städte Breslau (Wrocław), Gleiwitz (Gliwice), Kattowitz (Katowice) und ihre Umgebung stattfinden. Im Mittelpunkt der Fahrt stand das deutsch-polnisch-jüdische Kulturerbe der Region sowie der öffentliche Umgang mit der Geschichte. Zwei Spaziergänge durch die größte Stadt Schlesiens, u.a. zur Breslauer Dominsel, zum alten jüdischen Friedhof und der Jahrhunderthalle boten Einblicke in die bewegte Geschichte und besondere Entwicklung der schlesischen Metropole. Die Großstadt erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg einen nahezu vollständigen Austausch ihrer Bevölkerung und den Umbau ihrer Denkmals- und Erinnerungslandschaft. Doch heute wird auch die deutsche und jüdische Vergangenheit der Stadt wieder wahrgenommen und öffentlich herausgestellt.
Von Niederschlesien führte der Blick nach Oberschlesien und seine politischen Auseinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg. Die Versuche einer Teilung Schlesiens zwischen Polen und Deutschland führten in der multiethnischen Region zu bürgerkriegsartigen Kämpfen (Aufständen), einer Volksabstimmung und Grenzziehung, die gewachsene Strukturen zerschnitt. Die heutige Vermittlung dieser Geschichte bot sich den Referendar in zwei multimedialen Ausstellungen im Museum der Schlesischen Aufstände in Schwientochlowitz (Świętochłowice) und im Schlesischen Museum in Kattowitz. Für die jungen Geschichtspraktiker ungewohnt war nicht nur der starke Inszenierungsgrad der Ausstellungen, sondern auch die Emotionalität der Erzählungen. Beindruckend war das junge Haus der Erinnerung an die oberschlesischen Juden, das in der ehemaligen Friedhofshalle am jüdischen Friedhof von Gleiwitz mit seinem umfangreichen museumspädagogischen Programm bei älteren und jüngeren Besuchern großen Anklang findet. Sowohl mit dem Museum am alten jüdischen Friedhof in Breslau als auch in Gleiwitz zählt die deutsch-jüdische Vergangenheit der Städte heute zur lokalen Erinnerungskultur. Von besonderer historischer Bedeutung und Symbolik ist die Anlage des ehemaligen Senders Gleiwitz. An diesem Ort inszenierte die SS am 31.08.1939 einen polnischen Überfall auf den deutschen Teil Oberschlesiens. Diese Aktion wurde als Vorwand für den am Tag darauf erfolgten Angriff auf Polen und damit für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges genommen. Ein Dokumentarfilm mit längeren Spielszenen vermittelt heute die Geschichte der „Gleiwitzer Provokation“ in den historischen Räumen des Senders.
Wie andere Regionen Europas erlebt auch die Industrieregion Oberschlesien seit über zwei Jahrzehnten einen strukturellen Wandel. Einige der ehemaligen Fabriken und Bergwerke finden neue Funktionen als Orte der Industriekultur. Ein herausragendes Beispiel ist das 2015 eröffnete Schlesische Museum auf dem Gelände der ehemaligen Hütte Ferdinand bzw. Katowice. Bei zwei Stadtspaziergängen zeigte sich den Referendaren wie die heutige Metropole Kattowitz im 19. Jahrhundert als industrielle Planstadt v.a. adeliger Investoren entstand. Auch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Patronatssiedlungen Nickischschacht (Nikiszowiec) und Gieschewald (Giszowiec) zeugen vom schnellen Wachstum der Region und neuen Wohnlösungen für die vielen Arbeiter der Großbetriebe.
Zwischen den Altstädten von Breslau und Gleiwitz und dem wesentlich jüngeren Zentrum von Kattowitz mit seiner vom Bergbau geprägten Umgebung bot sich den Referendaren die Vielfalt der schlesischen Landschaften. Eine Exkursion in die nahe gelegene Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau führte an einen zentralen Ort der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg und unserer heutigen Erinnerungskultur. Ihren Abschluss fand die Reise durch Schlesien in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Kreisau bei Schweidnitz (Świdnica). Die Rückfahrt über Niederschlesien bot die Gelegenheit für eine Besichtigung der Schweidnitzer Friedenskirche, Europas größter Fachwerkkirche, die aus den Bestimmungen des Westfälischen Friedens hervorging.
Für die künftigen Geschichtslehrer boten sich auf dem ehemaligen Gut der Familie von Moltke in Kreisau Momente der Reflexion und unterrichtspraktischen Gestaltung der gesammelten Eindrücke. Ein Workshop zum neuen deutsch-polnische Schulbuch rundete den Abschluss der Reise ab. Es ist eines der Medien, die den Blick auf die Beziehungsgeschichte zum zweitgrößten Nachbarn Deutschlands öffnen sollen – und dem Austausch mit Schlesien und Polen im deutschen Schulunterricht mehr Gewicht verleihen wollen.