Als Gast bei Podium Silesia referierte Dr. Andrzej Michalczyk am 3. März 2021 über das Thema „Migrationsgeschichte Oberschlesiens. Globale Migrationen aus lokaler Perspektive“.
Einleitend fand der Kulturreferent Dr. David Skrabania einige Worte zur Relevanz des Themas für die heutige Zeit. Vor der Coronapandemie war es nämlich die Debatte um Migration, die einen wesentlichen Teil der Politik bestimmte. Er wies darauf hin, dass aus der Perspektive des Einzelnen Migration eine Lebenschance sei; illustriert wurde das Beispiel anhand eines Zitats von Ludwik Hurski, der Anfang der 1870er in Zabelkau/OS geboren wurde und das Auftauchen eines Werbeagenten in seinem Dorf im Frühjahr 1879 beschrieb, der auf der Suche nach Arbeitern war und ihnen einen guten Verdienst in Westfalen versprach. Westfalen, das war für die alten Frauen im Dorf der Ort, wo die Sonne untergeht, von dem nie einer zurückkam. Dennoch sehnten sich die jungen Männer danach, dort das große Geld zu machen, und konnten es kaum erwarten, das 16. Lebensjahr zu erreichen und zur Arbeit in den Westen des Reiches aufzubrechen.
Der Kulturreferent, Dr. David Skrabania.
Die Region Oberschlesien, so führte Dr. Andrzej Michalczyk anschließend aus, sei ein herausragendes Beispiel für eine tiefverankerte Kultur der Migration. Von hier aus migrierten Einwohner in alle Himmelsrichtungen und entwickelten transmigrantische Routen nach Russisch-Polen, Großpolen, in das Innere des Deutschen Reiches, die US-amerikanischen Bundesstaaten Wisconsin und Minnesota und in die südbrasilianische Provinz Paraná. Michalczyk führte mit vielen Nachkommen der Amerika-Auswanderer Interviews. Die Ziele der Migration wandelten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, je nach politischer Wetterlage. Vor allem in den 1870ern und 1880ern gab es ein regelrechtes Amerikafieber, während es in den 1860ern wegen des amerikanischen Bürgerkriegs eher in Richtung Russisch-Polen ging und erst danach eine Auswanderungswelle nach Wisconsin begann.
Dr. Andrzej Michalczyk.
Durch die Beseitigung der Leibeigenschaft und des behördlichen und grundherrlichen Aufenthaltsbestimmungsrechts nahm die Mobilität der Oberschlesier ab der Mitte des 19. Jahrhunderts massiv zu. Die Arbeitsmigration bedeutete häufig auch einen sozialen Aufstieg für die im Heimatdorf Verbliebenen, denn das Geld wurde dort z.B. in den Hof investiert. Anhand der vielfältigen oberschlesischen Migrationsbewegungen in und über Europa hinaus wird zudem der Wandel eines deutsch-polnischen Grenzraums und die Genese transnationaler Migrationsnetzwerke sichtbar. Die vielfältigen Migrationsbewegungen, die von Oberschlesien ausgingen, nach Oberschlesien zurückführten und transnationale Räume entstehen ließen, regen dabei dazu an, das Eigene und das Fremde immer wieder aufs Neue zu reflektieren.
Im Anschluss gab es einige Rückfragen. So stellte sich die Frage, warum gerade aus den im Vortrag genannten Orten die Menschen migrierten. Lange Zeit erklärte man Migrationsbewegungen lediglich mit der Attraktivität des Ziels, ohne die Dynamiken im Ausgangsort zu erfassen. Im Falle der Auswanderung beispielsweise nach Texas war es reiner Zufall, dass sich aus einem kleinen Örtchen heraus eine Migrationsroute etablierte: Ein Sohn einer wohlhabenden Bauernfamilie, Leonhard Moczygemba, wurde in die Stadt geschickt, um Priester zu werden. Nach seinem Studium beorderte der Bischof ihn nach Texas, um als Seelsorger für die dort bereits ansässige deutschsprachige Community zu fungieren. Moczygęba stand in hohem Ansehen in seinem Heimatdorf, er war sozusagen ein Lokalheld, und dieses Vertrauen in ihm bewegte dann die Menschen, ihm nachzufolgen. Wäre er nicht als Pionier dort gelandet und hätte er nicht in die Heimat berichtet, wäre es nie zu der Migration nach Texas gekommen.
Gestreamt wurde über Facebook. Im Bild: Frau Katharina Gucia-Klassen, Mitarbeiterin des OSLM.
Mehrere Zuhörer interessierten sich auch dafür, ob bis heute Kontakte zwischen Oberschlesien und der neuen Heimat hinter dem Meer bestehen. Zum einen gab es den Onkel in Amerika, der in schweren Zeiten mit Geld und Gütern helfen konnte. Es gibt aber auch die reiselustigen Texaner, viele der inzwischen wohlhabenden Nachfahren besuchten das Dörfchen, in dem ihre Familienwiege stand. Ein Beispiel der so entstandenen Räume und der Verbundenheit, die Migranten über Generationen mit ihrer alten Heimat verbindet.
Abschließend wurde noch die Frage gestellt, ob eine globale Steuerung der Migration aus historischer Perspektive Sinn macht. Migration sei immerhin ein Ventil, dass die Verhältnisse am Ursprungsort stabilisieren könnte. Dr. Andrzej Michalczyk, der zuvor gesagt hatte, er sei kein Freund von „Lernen aus Geschichte“ im Sinne davon, dass man dann klug sei und Analogien ziehen könnte, sondern eher davon, dass man daraus Lebensweisheit gewinnen könne, verneinte diese Frage. Ein zentrales Steuerelement, so Michalczyk, wisse einfach nicht um die Bedürfnisse der Menschen. Diese kennen sie selbst am besten und schon damals überquerten sie auch Grenzen, die theoretisch geschlossen waren.
Dr. Andrzej Michalczyk, Ruhr-Universität Bochum
Jg. 1976; Geschichtsstudium an der Universität Warschau (1995-2000)
Promotion am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt (2003-2006). Die Dissertation wurde mit dem Förderpreis des polnischen Generalkonsulats in Köln ausgezeichnet.
Verschiedene Stipendien und Forschungsaufenthalte u.a. am Institut für Europäische Geschichte in Mainz sowie am Herder-Institut Marburg
Seit Oktober 2007 Studienrat im Hochschuldienst für Neuere und Neueste und Ostmitteleuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum
Februar 2012 Gastdozent an der Schlesischen Universität Kattowitz
März 2015 Gastdozent an der University of Strathclyde, Glasgow
Dezember 2017 RUB Spectress Fellow an der Universität São Paulo, Brasilien
August-Dezember 2018 Visiting Professor an der Central Michigan University, USA
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